Sweet Spot – Die Psychologie des Unterrichtens

Gute Fragen – Wie Du mit kleinen Anpassungen einen grossen Unterschied machst

Stell dir vor, du hättest in deiner bisherigen Laufbahn als Ausbilderin oder Ausbilder bereits eine Million Fragen gestellt. Eine beeindruckende Zahl – doch entscheidender als die Menge ist, was nach der Frage passiert. Wer antwortet? Wie lange wartest du? Und erreichst du mit deiner Frage alle – oder nur die Schnellsten? In diesem zweiten Artikel der Serie «Die Psychologie des Unterrichtens» beleuchten wir, wie du mit kleinen Veränderungen beim Fragen den Sweet Spot in deinem Unterricht triffst.

Autor: Tim Hartmann, Fachspezialist bei Jugend- und Erwachsenensport am BASPO; Dozent für Sportpsychologie und Kampfsport am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel

Einer Unterrichtsstudie zufolge stellen Lehrpersonen täglich rund 300-400 Fragen.1 Hochgerechnet sind das jährlich bis zu 80’000 Fragen und somit über 3 Millionen Fragen im Laufe einer Lehrerkarriere. Gewiss gilt es diese Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. Falls du dich als Ausbilderin oder Ausbilder im Sportsetting bewegst, dürften sie tiefer liegen. Gut möglich jedoch, dass auch du die Millionengrenze knacken wirst. Fakt ist: Über alle Alters- und Zielgruppen hinweg sind Fragen ein wichtiges Tool im Werkzeugkasten von Ausbilderinnen und Ausbilder. Mit Fragen forderst du die Teilnehmenden heraus. Du regst sie zum Mitdenken an und animierst sie zur aktiven Teilnahme.

Artikel, die sich der Kunst des Fragens widmen, fokussieren meist auf den Inhalt und die Formulierung von Fragen. Im vorliegenden Text beschreiten wir einen anderen Weg. Wir richten die Scheinwerfer auf das, was passiert, nachdem eine Frage gestellt wurde. Weiter unten findest du dazu Umsetzungsideen rund um das sogenannte Cold Calling (siehe Box).

Ausbilderin erklärt etwas.

Wo platzierst du die/den Ausbilder/-in?

Wo würdest du im Koordinatensystem die Ausbilderin oder den Ausbilder idealerweise setzen? Wie steht es um deine Kenntnisse in Sachen Fragen? Du hast drei Versuche.

  • Senkrechte: Wählt für die Antwort auf eine Frage …
  • Waagrechte: Stellt eine Frage und wartet ….

… nur Personen, die sich nicht aktiv melden.
… nur Personen, die sich aktiv melden.
5
A5
B5
C5
D5
E5
4
A4
B4
C4
D4
E4
3
A3
B3
C3
D3
E3
2
A2
B2
C2
D2
E2
1
A1
B1
C1
D1
E1
… sehr kurz.
… sehr lange.

Auflösung

Wir gelten als Knopfdruck-Gesellschaft. Antworten und Reaktionen fordern wir umgehend ein. Warten war gestern. Vermutlich bringen wir diese Erwartungshaltung auch dann zum Ausdruck, wenn wir in die Rolle der Ausbilderin oder des Ausbilders schlüpfen. Die Bildungsforschung untersucht in diesem Zusammenhang die sogenannte «Wait time». Sie gibt an, wie lange Ausbilderinnen und Ausbilder nach dem Stellen einer Frage warten, bis sie eine Person aufrufen. Basierend auf einer Literaturrecherche2 beträgt die Wartezeit bei Primar- und Sekundarschullehrpersonen nur gerade eine Sekunde. Im Hochschulsetting sind es etwa 2 Sekunden. Das ist bedauerlich. Schliesslich brauchen Teilnehmende mehr Zeit, um eine Frage zu verarbeiten und sich mental eine Antwort zurechtzulegen. Gemäss einer Dissertationsschrift3 sind es durchschnittlich 2.8 Sekunden bei geschlossenen Fragen und 6.9 Sekunden bei offenen Fragen.

Gib den Teilnehmenden deshalb genügend Zeit. Die Bildungsforscherin Janina Häusler2 empfiehlt eine lange Wartezeit von mindestens 5 Sekunden, bevor du jemanden antworten lässt. Zugegeben: 5 Sekunden (oder länger) schweigend vor versammelter Gruppe zu stehen, wird dir wie eine gefühlte Ewigkeit vorkommen. Das Warten aber lohnt sich. So ermöglichst du allen Teilnehmenden mitzudenken und animierst sie, sich aktiv einzubringen. Gerade auch langsamere oder leistungsschwächere Teilnehmende profitieren von diesem Vorgehen.

Übrigens gibt es auch die «Wait time 2». Diese bezieht sich auf die Wartezeit, nachdem eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer eine Antwort gegeben hat. Hier besagt eine Faustregel, dass du drei bis fünf Sekunden warten solltest. In dem du nach einer Antwort nicht gleich weiterfährst, ermutigst du andere Personen ebenfalls eine Antwort zu geben und mit den Wortmeldungen der anderen Teilnehmenden zu interagieren.

Senkrechte

Als Ausbilderin oder Ausbilder musst du hin und wieder alte Zöpfe abschneiden. Das heisst du reflektierst deinen Unterricht kritisch und scheust dich nicht, eingeschliffene Verhaltensweisen zu hinterfragen. Ein alter Zopf könnte die Art und Weise sein, wie Antworten erfragt werden. So stellen viele Ausbilderinnen und Ausbilder eine Frage, sehen wie ein paar Hände in die Höhe schnellen und bitten dann jemanden aus diesem (meist gleichbleibenden) Personenkreis um deren Antwort. Der Bildungsexperte Doug Lemov stellt diese Vorgehensweise in Frage. In seinem Buch «Unterrichte wie ein Champion»4 rät er vorwiegend mit sogenannten «Cold Calls» (siehe Box) zu arbeiten. Dabei bezeichnet ein Cold Call das Aufrufen von Teilnehmenden, auch wenn diese die Hand nicht gehoben hat. Gemäss Lemov fördert dieser Ansatz die Aufmerksamkeit, das Mitdenken und eine stärkere Beteiligung im Unterricht.

Wissenschaftliche Studien untermauern die Empfehlung von Lemov. Ein amerikanisches Forschungsteam5 verglich Klassen, in denen nur Schülerinnen und Schüler zu Wort kamen, die sich meldeten, mit Klassen, in denen die Lehrpersonen bewusst auch mit Cold Calls arbeiteten. Ergebnis: In der Cold Call Bedingung zeigten die Schülerinnen und Schüler mehr Engagement und beteiligten sich aktiver am Unterricht (auch in Phasen, in denen die Lehrperson ohne Cold Calls arbeitete). Die Forschenden vermuten, dass Cold Calls die Teilnehmenden gewissermassen zu ihrem Glück zwingen. Indem sie sich häufiger mündlich einbringen (müssen), erwerben sie kommunikative Skills. Diese wiederum steigern das Selbstbewusstsein und animieren die Teilnehmenden, sich zukünftig noch mehr einzubringen. Die Studienleiterinnen betonen zudem, dass Cold Calls auch zurückhaltende Schülerinnen und Schüler miteinbeziehen und es aufgrund der Vielfalt an Wortmeldungen zu interessanteren Diskussionen kommt. Zudem ermöglichen Cold Calls der Lehrperson, das Verständnis und den Lernfortschritt aller Beteiligten zu überprüfen.

Angesprochen auf Cold Calls, winken viele Ausbilderinnen und Ausbilder ab. Sie assoziieren diese Methode mit einem belastenden Unterrichtsklima, das von Angst und Stress geprägt ist. Cold Calls könnten Teilnehmende unter Druck setzen und sie blossstellen. Wissenschaftliche Studien nehmen dieser Befürchtung den Wind aus den Segeln. Die bereits zitierten Studie5 wies nach, dass das Wohlbefinden von Schülerinnen und Schüler in der Cold Call Bedingung im Laufe der Intervention zunahm. Entscheidend beim Cold Calling ist wie du als Ausbilderin oder Ausbilder mit den Teilnehmenden interagierst. Achte auf eine positive Fehlerkultur. Signalisiere den Teilnehmenden verbal und nonverbal, dass ihre Wortmeldung geschätzt wird und dass es ok ist, wenn sie Fehler machen oder etwas nicht wissen.

Versuch in deinem Unterricht mehr mit Cold Calls zu arbeiten. Das heisst nicht, dass du ausschliesslich so vorgehen musst. Zwischendurch kannst du auch den herkömmlichen Ansatz wählen und jene aufrufen, die sich aktiv zu Wort melden. Entscheidest Du dich mit Cold Calls zu arbeiten, können diese Tipps hilfreich sein:


Cold Calling – 3 Praxisempfehlungen

Cold Calling meint das gezielte Aufrufen von Teilnehmenden, auch wenn sie sich nicht aktiv gemeldet haben. Ziel ist es, mehr Aufmerksamkeit, Beteiligung und Inklusion zu fördern.

  • Kündige Cold Calls an, z.B.: «Welche Taktik würdet Ihr gegen dieses Team anwenden? Ich gebe euch 30 Sekunden, um über diese Frage nachzudenken. Nachher werde ich drei Personen um ihre Meinung bitten.»
  • Kombiniere Cold Calling mit der Think-Pair-Share-Methode. Dabei denken die Teilnehmenden zuerst allein über eine Frage nach («Think») und tauschen sich dann in Zweiergruppen dazu aus («Pair»). Im Anschluss arbeitest du mit Cold Calls und bittest ausgewählte Gruppen, den Kern ihrer Diskussion zusammenzufassen («Share»), z.B.: «Lisa und Max, zu welchem Schluss seid ihr gekommen?»
  • Verknüpfe Cold Calling mit soziometrischen Organisationsformen. Dabei stellen sich die Teilnehmenden basierend auf ihren Antworten im Raum auf (z.B. «Wer meint, dass Antwort A stimmt, stellt sich vorne links hin; wer meint, dass Antwort B richtig ist, vorne rechts etc.»). Im Anschluss kannst du mit gezielten Cold Calls arbeiten: «Tom, du hast dich vorne links hingestellt. Wieso hast du dich für diese Antwort entschieden?»

Literatur

  • 1 Levin, T., & Long, R. (1981). Effective instruction. Washington, D.C.: Association for Supervision and Curriculum Development.
  • 2Häusler, J., Gartmeier, M., Grünewald, M.G. et al. (2024). Too much time or not enough? An observational study of teacher wait time after questions in case-based seminars. BMC Med Educ 24, 690.
  • 3Jones N.A. (1980). The effect of type and complexity of teacher questions on student response wait time. Doctoral Dissertation, University of Pittsburgh.
  • 4Lemov, D. (2023). Unterrichte wie ein Champion. Weinheim: Wiley-VCH.
  • 5Dallimore, E., Hertenstein, J. & Platt, M. (2013). Impact of Cold-Calling on Student Voluntary Participation. Journal of Management Education. 37. 305-341.