Mädchenförderung im Sport

Völkerball revisited

Das bekannte und bei Kindern und Jugendlichen beliebte Spiel ist aus pädagogischer Sicht nicht unumstritten. Trotzdem: Mit wenigen Anpassungen können pädagogisch wertvolle Spielmöglichkeiten für Mädchen geschaffen werden.
Zeichnung: Junge Frau beim Ballwurf.
Bild: Jocelyne Rickli

Das traditionsreiche Spiel Völkerball polarisiert: Hört man sich unter Lehrpersonen, Trainerinnen und Trainern oder Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern um, gehen die Meinungen zu den pädagogischen Werten des Spiels deutlich auseinander. Die Einen verweisen empört darauf, dass die beim Völkerball spielen geübten taktischen und technischen Fertigkeiten – meist zynisch zusammengefasst als «vor dem Ball davonrennen sowie fangen und werfen des Balls auf unspezifische Art und Weise» – keine in den grossen Sportspielen gefragten und damit zielführenden Verhaltensweisen bzw. Fertigkeiten darstellen würden.

Weiter sei die Spielidee des Völkerballs, nämlich sich mit dem Ball als Waffe gegenseitig abzuschiessen, aus pädagogischer Sicht kontraproduktiv, da auf diese Weise weder Respekt und Fairplay erlernt, noch grundsätzliche Lernziele hinsichtlich sozialer Entwicklung und Kompetenz der Schülerinnen und Schüler erreicht würden (z.B. Keller, 1991). Im Zuge dieser negativen Auslegungen des Völkerballs wird weiter auf traumatische Erfahrungen insbesondere der «schwächeren» Kinder verwiesen (Keller, 1991; Stocker, 2005).

Währenddessen verklären die anderen Völkerball auf romantische Art und Weise als «Kleines Spiel», das wegen der wenigen notwendigen vorausgesetzten motorischen Grundfertigkeiten von allen Kindern gespielt werden könne. Das Spiel zeichne sich durch ein besonders hohes Spannungs- und Aufforderungsmoment aus (z.B. Lange & Sinning, 2011). Dies insbesondere aufgrund seines offenen Ausgangs sowie der reizvollen Crux, Bälle abzufangen, aber dabei selber nicht getroffen zu werden. Völkerball eröffne daher «vielfältige Spielsituationen, von welchen wünschenswerte erzieherische Wirkungen wie z.B. die Entwicklung von Entscheidungs- und Problemlösekompetenz ausgehen könnenA (Sinning, 2004; vgl. Lange & Sinning, 2011, S. 12).

Bei vielen Kindern und Jugendlichen beliebt

Ungeachtet dieser Ambiguität in der Deutung des pädagogischen und sportspezifischen Werts des Spiels wird Völkerball jedoch von vielen Schülerinnen und Schülern in der Schule und Kindern im Verein äusserst gerne gespielt (Lange & Sinning, 2011). Das gilt erfahrungsgemäss insbesondere für Mädchen in Mädchengruppen. Dies könnte möglicherweise deshalb der Fall sein, weil Mädchen im Vergleich mit Jungen weniger häufig klassische Ballspielsportarten wie Fussball, Unihockey oder Basketball betreiben (vgl. Lamprecht et al., 2015, S. 12), deshalb kleine Ballspiele ausserhalb der organisierten Wettkampfstrukturen und Spielregeln (Cachay, 1978) eher schätzen und sich in Mädchengruppen nicht vor dem (körperlichen) Engagement und Einsatz der Jungen fürchten müssen.

Den Zugang erleichtern

Vor dem Hintergrund der Spielfreude der Mädchen und der kontrovers diskutierten Werte des Völkerballs sind Inszenierungs- und Spielformen für Mädchengruppen erstrebenswert, die (a) als Vorbereitung auf grosse Sportspiele das Üben und die Verbesserung einfacher Grundtechniken und -taktiken wie (zum Ball laufen und) Fangen und Werfen beinhalten. Zudem sollen diese Inszenierungsformen (b) persönlichkeitsfördernde Erfahrungen ermöglichen, und das insbesondere für (sportspiel-)schwächere Mädchen.

Punkt (a) wird erreicht, wenn mit einem Softball (z.B. Schaumstoffball) gespielt wird. Auch ängstliche Mädchen müssen so nicht vor dem Ball weglaufen, sondern trauen sich, ihn zu fangen und zu werfen. Zudem animieren Spielformen wie «Völkerball mit Eindringlingen», die mit Abtupfen statt mit Abwerfen gespielt werden können, zu vermehrten Pässen innerhalb des Teams, wodurch Fangen und Werfen explizit geübt werden und sich zusätzliche taktische Lernmöglichkeiten eröffnen.

In Bezug auf Punkt (b) soll entsprechend den Vorgaben des Lehrplans 21 (D-EDK, 2014) die Förderung des Selbstkonzepts angestrebt werden. Unter dem Selbstkonzept – ein den selbst- und umweltbezogenen Kognitionen zurechenbares Persönlichkeitsmerkmal – wird «die Gesamtheit der Einstellungen zur eigenen Person» (Mummendey, 2006, S. 38) verstanden.

Damit gemeint ist das Wissen eines Menschen über die eigenen Fähigkeiten, Eigenschaften, Beziehungen und Gefühle. Im Sport kann das Selbstkonzept dadurch gefördert werden, dass sich Mädchen als kompetent erfahren (Kompetenzerfahrung), über das eigene Sport treiben und ihr Verhalten im Sport nachdenken (Reflexion) und ihre sportlichen Leistungen in erster Linie mit eigenen früheren Leistungen statt mit denen von anderen vergleichen (Individualisierung) (Conzelmann, Schmidt & Valkanover, 2011; Oswald, Valkanover & Conzelmann, 2013).

Praxisanwendungen

Die im Praxisteil (siehe Kasten) dargestellten Spielmöglichkeiten zeigen auf, wie Völkerball mit Mädchen von Lehrpersonen oder Trainerinnen und Trainern inszeniert werden kann, um im Rahmen des Spiels Fangen und Werfen zu üben sowie eine selbstkonzeptfördernde Wirkung bei den Sportlerinnen zu ermöglichen. Zunächst wird die Spielidee der Grundform erläutert und verschiedene Spielformen vorgeschlagen. Sie können mit Mädchen der 7. bis 12. Klasse beliebig lange gespielt werden.

Im Vordergrund stehen folgende Lernziele:

  • Die Schülerinnen können die Spielidee und die Begrifflichkeiten des Völkerballs beschreiben und kritisch diskutieren.
  • Die Schülerinnen können den Ball bei Zuspiel oder aus der Luft (ab-)fangen und rasch weiter- oder abwerfen.
  • Die Schülerinnen können verschiedene taktische Spielweisen des Völkerballs beschreiben und umsetzen.
  • Die Schülerinnen können ihre eigene sportliche Leistung sowie diese des Teams im Völkerball beschreiben und einschätzen.

Hinweise

  • Die dargestellten Spielformen können einzeln oder in Verbund miteinander und zeitlich beliebig lang gespielt werden.
  • Alle Spielformen sind auch mit Jungen durchführbar.
  • Die beschriebenen selbstkonzeptfördernden Spielmöglichkeiten können in adaptierter Form auch bei anderen Spielen angewendet werden.