Sport und Inklusion

Das InSpot Prinzip – ein Planungstool für den inklusiven Sportunterricht

Inklusiver Sportunterricht fördert Kinder mit und ohne Behinderung. Er schafft gemeinsame Bewegungserlebnisse, ohne individuelle Förderschwerpunkte zu vernachlässigen. Das Planungstool für den inklusiven Sportunterricht «InSpot» gibt Impulse zur Gestaltung eines inklusiven Bewegungs- und Sportunterrichts und ermöglicht den Aufbau einer «Good-practice»-Sammlung.

Der inklusive Sportunterricht lebt von vielfältigen Bewegungsbeziehungen, variantenreichen Lösungsstrategien und individuellen Anpassungen. Vor diesem Hintergrund und in Verbindung mit dem Lehrplan 21 ist «InSpot» ein hilfreiches System, um die Inhalte zu planen und das Unterrichtsgeschehen zu reflektieren. Zusätzlich gibt «InSpot» Anregungen zur individuellen Entwicklungs- und Bewegungsbeobachtung und ermöglicht den Aufbau einer «Good-practice»-Sammlung.

Ein erfolgreicher inklusiver Sportunterricht fördert durch didaktisch-methodische Anpassungen, gemeinsame Bewegungserlebnisse und berücksichtigt die individuellen Förderschwerpunkte der Kinder mit (und ohne) Beeinträchtigung. Diese Sichtweise von Unterricht sucht den Ausgleich im Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Beziehung (weniger – langsamer – näher) und dem Prinzip der Leistung (mehr – schneller – weiter).

Abb. 1: Spannungsbögen im inklusiven Sportunterricht

Gleichzeitig öffnet sich das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch an individueller Förderung und der Anpassung der Sportart, damit Teilhabe, Selbstwirksamkeit und Erfolg im Sport erlebt werden kann. Die Schüler/innen erkennen Gemeinsamkeiten sowie unterschiedliche Stärken und lernen die heterogenen Lernvoraussetzungen innerhalb der Klasse zu akzeptieren. Eine diversitätssensible Haltung der Lehrperson sowie das Wissen über die Gestaltung sozialer Prozesse ermöglichen die Entwicklung von stabilen, positiven Beziehungen zwischen den Beteiligten.

Bewegungsbeziehungen gestalten

Behinderung ist nicht im Menschen, sondern zwischen den Menschen. Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung erleben Bewegung und Sport in unterschiedlichen Bewegungsbeziehungen. Dabei müssen nicht immer alle Aktivitäten gemeinsam durchgeführt werden. Je nach Situation können die Inhalte zeitweise in getrennten Gruppen oder individuell thematisiert werden. Der bewusste Umgang mit unterschiedlichen Bewegungsbeziehungen zeichnet einen erfolgreichen inklusiven Sportunterricht aus. Bei «InSpot» werden die folgenden Bewegungsbeziehungen unterschieden (Weichert, 2008):

  • subsidiär – mit Unterstützung bewegen: der/die Helfende passt sich mehr oder weniger den Wünschen und Anforderungen des/der zu Unterstützenden an.
  • koexistent – nebeneinander Bewegen: sich im selben Raum, mehr oder weniger unabhängig voneinander, zu einem gemeinsamen Thema bewegen.
  • koaktiv – miteinander bewegen: gestalten eines gemeinsamen Produktes mit einem hohen Freiheitsgrad der individuellen Mitgestaltung.
  • kooperativ – miteinander bewegen: gestalten eines gemeinsamen Produktes mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit und Abstimmung.

Lösungsstrategien anwenden

Für einen erfolgreichen inklusiven Bewegungs- und Sportunterricht können verschiedene Lösungsstrategien verfolgt werden. «InSpot» unterscheidet die folgenden Lösungsstrategien (Weichert, 2008):

  • Homogenisierung: Bilden von Gruppen und Mannschaften mit vergleichbaren, individuellen Bewegungsmöglichkeiten (z.B.: Zonenspiel).
  • Rollenzuteilung: Die Bewegungsrollen und -aufgaben werden entsprechend den individuellen Bewegungsfähigkeiten und -fertigkeiten gewählt (z.B.: Tanz).
  • Kompensation: Unterschiedliche Leistungsvoraussetzungen werden durch den Partner/die Partnerin durch Hilfsmittel oder entsprechende Gerätearrangements sowie individuellen Regelanpassungen ausgeglichen (z.B. Rafroball)
  • Unterschiede nutzen: Unterschiede werden zum Bewegungs- und Spielthema. Durch das bewusste Spielen mit den Unterschieden wird die Attraktivität des Bewegungsangebotes gesteigert. Die eigenen Stärken können genutzt werden (Bsp.: beim Badminton zählen Körpertreffer (mobilitätsbeeinträchtigt/Rollstuhl)).
  • Zufall und Glück: Durch das Einsetzen von Glückselementen treten die Unterschiede in den Hintergrund (z.B.: Tor zählt so viel wie Würfelpunkte).

Anpassungen arrangieren

Der inklusive Sportunterricht lebt von Anpassungen in verschiedenen Bereichen. Zur Strukturierung der Adaptionen gibt es mehrere Modelle. Als Grundlage zur Gliederung der Anpassungen nutzt «InSpot» das 6+1 Modell eines adaptiven Sportunterrichts» (Tiemann, 2013) und ergänzt die sechs Felder der Anpassung mit dem siebten Feld «Spezielle Geräte + Hilfsmittel» (z.B. Häusermann, 2018).

Zu diesem Feld gehören die speziell für den Sport mit Menschen mit einer Beeinträchtigung entwickelten, oft individuell angepassten Geräte und Hilfsmittel, wie zum Beispiel eine spezielle Halterung für den Badmintonschläger (Tischtennis-, Tennis-, Unihockeyschläger) bei einer Unterarmamputation oder der «Stick» zum Anzeigen der Wende für Schwimmer/innen mit einer Sehbeeinträchtigung. Sportspezifische Orthesen und Prothesen, Sportrollstühle und andere angepasste Sportgeräte sind für eine optimale Bewegungs- und Sporttätigkeit hilfreich.

Abb. 2: Anpassungen arrangieren (nach Tiemann, 2013
  • Aufgabenstellung: z.B. Bewegungen vorzeigen und nur wenig auf einmal variieren.
  • Kommunikation: z.B. Bewegung durch Geräusche und Stimme hörbar machen.
  • Lernumfeld: z.B. Durch eine reizarme Umgebung Aufmerksamkeit ermöglichen.
  • Regeln: z.B. durch individuelle Regeln den Aktionsradius vergrössern.
  • Sozialform: z.B. mit einer Begleitperson Bewegung ermöglichen (Tandem).
  • Material: z.B. durch Bälle mit knalligen, leuchtenden Farben das Erkennen erleichtern.
  • Spezielle Geräte und Hilfsmittel: z.B. mit PORTA Gebärden Kommunikation unterstützen ().

Individuelle Voraussetzungen beachten

Grosse Unterschiede der individuellen physischen und psychischen Voraussetzungen können im inklusiven Sportunterricht schneller zu einer Über- oder Unterforderung führen. Die Intensität und die Verteilung der Belastung sowie der Pausen sind gut zu planen. Beim Variieren von Bewegungsaufgaben sollte nur wenig auf einmal verändert und dabei die Bewegungsqualität beibehalten werden. Mit Ritualen kann eine übersichtliche und klare Struktur innerhalb der Vielfalt geschaffen werden.

Kinder und Jugendliche mit einer angeborenen, erworbenen oder fortschreitenden Beeinträchtigung haben unterschiedliche Voraussetzungen für die Entwicklung eines erfolgreichen Bewegungsverhaltens. Auf der Grundlage der verfügbaren sensomotorischen, kognitiven und psychischen Funktionen bilden das Neu- und Umlernen, das kreative Kompensieren und das Ausgleichen von Asymmetrien Schwerpunkte im motorischen Handeln.

Unterschiedliche Beeinträchtigungen in der Wahrnehmungs-, Beurteilungs-, Entscheidungs- und Handlungskompetenz können bei Kindern und Jugendlichen mit kognitiver Beeinträchtigung, Wahrnehmungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Autismus-Spektrum Störungen die Selbststeuerungsfähigkeit sowie das Gefahrenbewusstsein einschränken.

Inklusiver Bewegungs- und Sportunterricht heisst mit offenen Lernsituationen umgehen zu lernen, Kreativität zu fördern und dabei Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, welche ein möglichst selbstgesteuertes Lernen ermöglichen. Besonders Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum- Störungen, Wahrnehmungs- und Verhaltensauffälligkeiten oder kognitiver Beeinträchtigung sind hier auf Begleitung angewiesen. Bei Häusermann, Bläuenstein und Zibung (2014) sowie bei Giese und Weigelt (2017) finden sich differenzierte Hinweise dazu, was im Sport bei Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zu beachten ist.

Messen und Vergleichen

Sport bietet für Kinder und Jugendliche ein breites Feld um sich gegenseitig messen zu können und die eigene Leistungsfähigkeit zu verbessern. Im inklusiven Bewegungs- und Sportunterricht bieten sich dafür der Vergleich mit der eigenen Leistung, der Nachteilsausgleich, das Differenzsystem und das Punktesystem an.

  • Vergleich mit der eigenen Leistung: Beim Vergleich mit der eigenen Leistung wird in einem Sportjournal die persönliche Bewegungserfahrung und Leistung dokumentiert. So kann das Ausmass der individuellen Leistungsentwicklung verglichen werden.
  • Nachteilsausgleich: Mit einem Nachteilsausgleich auf organisatorischer oder inhaltlicher Ebene oder bezüglich der Wertungstabelle können Voraussetzungen für eine vergleichbare Leistung geschaffen werden. So gilt beim Weitsprung für einen Schüler mit einer Sehbehinderung der Zonenabsprung statt der Balkenabsprung (inhaltlicher Ausgleich) oder eine Helferin steht beim Balken und gibt akustische Signale (organisatorischer Ausgleich). Die Weite kann auch mit einem Faktor, wie im paralympischen Leistungssport üblich multipliziert werden (Wertungstabelle Ausgleich).
  • Differenzsystem: Beim Differenzsystem wird bei zwei Durchgängen, mit einer kurzen Pause dazwischen, möglichst die gleiche Leistung wiederholt erbracht. Dadurch wird die Selbsteinschätzung gefördert. Wer beim zweiten Durchgang exakt dieselbe Leistung (z.B. Zeit für 50 Meter Schwimmen) zeigen kann, hat gewonnen. Bei einem Sportspiel wie zum Beispiel dem Handball, wird in der zweiten Halbzeit rückwärts gezählt; das Team das zuerst bei null ist, hat gewonnen.
  • Punktesystem: Beim Punktesystem werden den einzelnen Spielerinnen und Spielern eines Teams entsprechend ihren Beeinträchtigungen Handicap-Punkte von 1 (sehr starkes Handicap) bis 4 (kein Handicap) zugeordnet. Die Obergrenze der Spielenden pro Team wird festgelegt. Dieses System wird zum Beispiel im Rollstuhlbasketball  oder im Powerchair Hockey angewendet.

Differenzierte Planung

«InSpot» gibt die Möglichkeit den inklusiven Sportunterricht differenziert und kompetenzorientiert zu planen und zu reflektieren. Der Fokus kann dabei auf eine ausgewählte Bewegungsaktivität, einzelne Schüler/innen, die ganze Klasse oder eine Gruppe gelegt werden. Auf einem Dokument wird die Aktivität beschrieben und hinsichtlich ihres Inklusionspotentials reflektiert. Das zweite Blatt gibt die Möglichkeit zur systematischen individuellen Beobachtung und zur Reflexion des eigenen Verhaltens bezüglich der Teilhabe.

Beispiel einer InSpot-Aktivität
Beispiel einer InSpot-Aktivität
  • Aktivität: Auf diesem Blatt wird die Bewegungsaktivität beschrieben sowie Erschwerungen und Erleichterungen dazu notiert. Die Seitenspalte dient einerseits zur Verortung der Bewegungsaktivität im Lehrplan 21. Andererseits gibtsie die Möglichkeit einer Einordnung der Aktivität bezüglich der stattfindenden Bewegungsbeziehungen, gewählten Lösungsstrategien zur Teilhabe und
    individuellen Anpassungen entsprechend den Voraussetzungen der Kinder. Abschliessend bietet es Platz für Notizen und Beobachtungen. Mit dem Blick auf die Bewegungsaktivität kann daraus eine Sammlung von inklusiven Spielund Übungsformen entstehen. Wenn der Fokus auf die Klasse oder einzelne Kinder gelegt wird, können Prozesse der Teilhabe im Sportunterricht geplant, dokumentiert und beurteilt werden ((siehe Download, pdf).
  • Entwicklungsorientierte Beobachtung: Dieses Blatt bietet die Möglichkeit der entwicklungsorientierten Beobachtung einzelner Kinder in den Bereichen Verhalten, Lernen, Wahrnehmung, Motorik und Spielen. Förderschwerpunkte werden mitilfe der Beobachtungskriterien beschrieben. Die Details dazu sind in Literatur zu finden (siehe Download, doc).
Abb. 4: InSpot Bewegungsbeschreibung (nach Häusermann, Bläuenstein & Zibung, 2014).
  • Qualitative Beschreibung der Bewegung: Mit Hilfe eines Spinnennetzdiagramms (siehe Bild) wird das Bewegungsbild einzelner Kinder qualitativ und situationsbezogen beschrieben. Dabei werden die Kriterien Bewegungsfluss, BewegungszieI, Bewegungsvariation, Bewegungsweite und Bewegungsdynamik auf je einer Achse im Spinnennetzdiagramm abgebildet. Die Kriterien sind als Aussage formuliert, deren Richtigkeit auf der Achse von innen «trifft überhaupt nicht zu» bis aussen «trifft voll zu» eingeschätzt wird. Durch die Verbindung aller Achsenpunkte entsteht das Bewegungsbild auf dessen Grundlage Entwicklungen und Potenziale aufgezeigt und Lernziele mit dem Kind oder Jugendlichen gemeinsam definiert werden können. Im Sinne der Ressourcenorientierung stehen dabei die folgenden beiden Fragen im Mittelpunkt:
    • Wie habe ich es geschafft, dass der Punkt schon so weit aussen liegt?
    • Was kann ich/mein Umfeld tun, damit der Punkt noch weiter nach aussen
    wandert?
    Beide Fragen können (sinngemäss angepasst bzw. verändert) auch in den Bereichen
    der entwicklungsorientierten Beobachtung eingesetzt werden. Das
    vom Kind/Jugendlichen selbst ausgefüllte Spinnennetzdiagramm erlaubt es, die Eigenwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung zu vergleichen und Gemeinsamkeiten/Unterschiede wahrzunehmen. Dieses Bewusstsein bildet eine wichtige Grundlage für den gelingenden inklusiven Sportunterricht (siehe Download, pdf).

Zusammenfassung

Der inklusive Sportunterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung lebt von vielfältigen und kreativen Methoden der Unterrichtsgestaltung, welche die Partizipation aller Kinder und Jugendlichen mit verschiedensten Voraussetzungen ermöglicht. Im Sportunterricht dabei zu sein, trägt viel zur Akzeptanz und Anerkennung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung – auch ausserhalb des Sports – bei.

Die Dokumente von «InSpot» erlauben es einer Lehrperson, eigene Beispiele zu sammeln und sie z.B. innerhalb der Schule dem Kollegium zur Verfügung zu stellen. «InSpot» die Planung des inklusiven Sportunterrichts unterstützen sowie Anregungen zur individuellen Entwicklungs- und Bewegungsbeobachtung geben.

Inklusion ist ein individueller und gesellschaftlicher Prozess. So bildet auch dieser Artikel und die erwähnten Dokumente den aktuellen Stand von «InSpot» ab. Das Instrument soll den personellen, situativen und kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Schule angepasst, verändert und weiterentwickelt werden.