Mädchenförderung im Sport

Partnerakrobatik

Die Partnerakrobatik hat pädagogisches Potenzial, das zur Überwindung geschlechterbezogener Grenzen beitragen kann. Es eröffnen sich viele Chancen und Herausforderungen.
Zeichnung: Drei junge Frauen bei einem Kunststück.
Bild: Jocelyne Rickli

In der Partnerakrobatik wird gemeinsam mit Körperbewegung experimentiert. Sie bietet ein Feld, um Körpererfahrungen zu sammeln, die im Alltag nicht möglich wären. Zu zweit oder in Gruppen werden spektakuläre Kunststücke geübt und präsentiert. Das Ziel ist die Präsentation, es geht nicht um Sieg oder Niederlage. Im Erarbeitungsprozess geht es ausschliesslich um das Miteinander.

Wird Partnerakrobatik charakterisiert, fällt die Beschreibungmeist als typisch weiblich aus: gestalterisch, ästhetisch, gemeinschaftlich. Allerdings bietet die Akrobatik Anreize, die Vorstellungen zu Männlichkeit entsprechen, wie z.B. schwere Lasten tragen oder hohe und spektakuläre Pyramiden bauen. Die Partnerakrobatik spricht potenziell beide Geschlechter an, und wenn es zwischen den Beteiligten harmoniert, bietet sie einen beachtenswerten pädagogischen Wert.

Praxis

Pädagogische Chancen

Kooperation und Kommunikation sind das A und O in der Partnerakrobatik. Damit ein Kunststück gelingt, müssen die beteiligten Partner zusammenarbeiten und zwar auf psychischer wie auf physischer Ebene. Auf der psychischen Ebene muss die Rollenverteilung geklärt, der Auf- und Abbauprozess besprochen werden, die Beteiligten müssen ihr Wohlbefinden mitteilen und emphatisch zusammenwirken, Verantwortung ist zu übernehmen und abzugeben und Vertrauen ist aufzubauen.

Auf der physischen Ebene müssen sich die Beteiligten untereinander anfassen können, und sie müssen die körperlichen Stärken und Schwächen von sich selbst und voneinander kennen. Damit alle diese genannten Voraussetzungen einen synergetischen Effekt entfalten können, sind Verständnis, Respekt und Toleranz nötig – nur so wird die Präsentation des Kunststücks zu einem echten Gemeinschaftswerk.

All die genannten Punkte bilden Voraussetzungen für gelingende Partnerakrobatik, die Wirkung des Schaffensprozesses und auch das pädagogisch Wertvolle. Die Wirkung müssen die Beteiligten unter- und miteinander erarbeiten. So ist etwa das Vertrauen nicht selbstverständlich: es muss erlangt werden, Stärken und Schwächen müssen (an)erkannt werden.

Integrative Potenziale

Die Partnerakrobatik birgt weitere pädagogisch wertvolle Potenziale: Ein gelingendes Kunststück ist ein Erfolgserlebnis für Einzelne oder für die Gruppe, das sich positiv auf die Selbstwirksamkeit auswirkt. Offene Aufgaben fordern und fördern durch das gemeinsame (Er-)Schaffen Kreativität. Auf der emotionalen Ebene sind Vertrauen, Verantwortung, Empathie, Umgang mit Angst und das Ausdrücken von Freude und Enttäuschung gefragt.

In Bezug auf die Heterogenität in Gruppen bietet die Akrobatik sinnvolle Optionen: verschiedene Partnerakrobatik-Aufgaben sprechen unterschiedliche Fähigkeitsniveaus an. Neben den Aufgaben sind die nötigen Fähigkeiten selbst heterogen. So findeet jedes Kind eine Aufgabe, die es erfolgreich meistern kann. Die Akrobatik bindet schwere, starke und stabile Kinder ebenso ein wie leichte und schwächere Kindermit wenig Körperspannung. Zudem werden Hilfe stehende und sichernde Kinder und Kinder mit guten Ideen in der Akrobatik eingesetzt (zu den Grundlagen der Akrobatik vgl. Eberherr & Loeffl, 2013).

Im koedukativen Unterricht ist Sensibilität gefragt

Auch wenn Partnerakrobatik starre geschlechterbezogene Rollenbilder akdressiert – bspw. im Rock ‘n‘ Roll: Der Mann, selbstbewusst und stark, hat die Rolle der unteren, tragenden Person, die Frau unsicher und schwach, wird getragen und steht oben, und obwohl der pädagogische Nutzen sinnvoll klingt, ist es primär bei 11- bis 16-Jährigen nicht einfach, Partnerakrobatik zu unterrichten. Die gemischtgeschlechtliche Zusammenarbeit und der unvermeidliche Körperkontakt bilden zentrale Probleme.

Viele Jungen haben Mühe damit, sich auf gestaltungsorientiertes Arbeiten einzulassen und Stolz für Unterrichtsresultate zu empfinden, die nicht aus konkurrenzorientiertem Sport resultieren (Schmerbitz & Seidensticker, 1997). Das Miteinander im Sport liegt eher den Mädchen. Vor allem aber müssen Jungen und Mädchen beim Ausüben von partnerakrobatischen Elementen Körperkontakt und Körpernähe zulassen und einander vertrauen können und wollen.

Die körperliche und emotionale Nähe fällt Kindern und Jugendlichen dieses Alters häufig schwer, vor allem, in der Interaktion mit dem anderen Geschlecht. Gerade wenn es um das Miteinander geht, kann Körperkontakt sexuell konnotiert werden, so dass Berührungen als unangenehm oder peinlich empfunden werden (Menze-Sonneck, 2015). Es kann sein, dass sich Jungen und Mädchen voreinander schämen, und dass die herrschenden Berührungstabus eine Kooperation verunmöglichen. Dies kann sich z.B. im Gruppenbildungsprozess zeigen, wenn sich Mädchen und Jungen voneinander separieren (Menze-Sonneck 2015). Eventuell haben auch Mädchen untereinander bzw. Jungen untereinander in diesem Alter Berührungsängste.

Wie kann der Partnerakrobatikunterricht gestaltet werden, dass eine Kooperation zwischen den Geschlechtern fähigkeitsorientiert und fernab von Rollenbildern funktioniert, damit seine pädagogischen Chancen geöffnet werden?

Didaktische Hinweise für einen fähigkeitsorientierten Unterricht

Ein geschlechtersensibles Gespür seitens der Lehrperson ist Voraussetzung dafür, auftretende Probleme zu erkennen oder zu antizipieren. Die Wahl geeigneter Unterrichtsinhalte und -methoden strukturiert die Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler.

Für die wichtigen Prozesse wie Berührungsängste abbauen und gemischtgeschlechtliche Gruppen bilden ist genügend Raum und Zeit zu schaffen. Für den Abbau von Berührungsängsten bieten sich diverse Spielformen an, mit deren Hilfe sich die Schülerinnen und Schüler an den Körperkontakt gewöhnen können. Das Thematisieren von Helfen und Sichern als fester Bestandteil der Partnerakrobatik und das eingehende Üben von Helfergriffen und Hilfestellungen gibt den Kindern und Jugendlichen einen unmissverständlichen Sinn von Körperkontakt. Um Gruppen zu bilden, sind zuerst genügend Zeit und Gelegenheiten notwendig, damit sich die Beteiligten einander kennen lernen.

Mehrere Rollen einnehmen

Wenn in einfacheren bzw. kurzen Aufgabestellungen die Partnerinnen und Partner immer wieder gewechselt werden können, erhalten die Schülerinnen und Schüler Gelegenheiten mehrere Kinder kennen zu lernen, bevor die Gruppen für eine grössere Präsentation gebildet werden.

Durch wiederholtes Präsentieren der jeweils neu gelernten Figuren und mithilfe einer konsequenten Reflexion von Sicherheits- und Präsentationsregeln kann den Kindern und Jugendlichen bewusst gemacht werden, dass «letztendlich erst die Bereitschaft zur Übernahme und Perfektionierung verschiedener Rollen ein Gelingen des Gesamtvorhabens ermöglicht» (Menze-Sonneck, 2015, S. 191).

So entsteht die Chance, starre Rollenbilder und sportliche Hierarchien aufzulösen, wenn es um die Rollenverteilung in der Hilfestellung und von «Ober» und «Unter» geht, denn damit steht das Gelingen einer Pyramide im Zentrum – und bestehende geschlechterbezogene Rollenbilder werden irrelevant.

Didaktische Hinweise im Überblick:

  • Berührungsängste abbauen, sich an Körperkontakt gewöhnen: Spielformen mit Körperkontakt, Zeit um das Helfen und Sichern zu üben
  • Gemischtgeschlechtliche Gruppen bilden: Zeit und Raum, die Fähigkeiten voneinander kennen zu lernen durch Spielformen mit Körperkontakt sowie durch das Akrobatik-Figuren Erarbeiten in offenen Aufgabenstellungen, dazu immer wieder wechselnde Gruppen und dabei die heterogenen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen gezielt einsetzen
  • Häufiges Präsentieren von Figuren und die Sicherheits- und Präsentationsregeln sowie die Rollenverteilung stets reflektieren.