Sportmedizin

Leistungssport trotz Wachstum

Die meisten Trainerinnen und Trainer haben früher oder später mit Athletinnen und Athleten im Nachwuchsleistungssport zu tun. Bei Kindern und Jugendlichen, die Leistungssport betreiben, muss dem Thema «Wachstum und Entwicklung» besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der folgende Blog betrachtet das Thema aus der Perspektive der Trainerin oder des Trainers. Er zeigt auf, wie sie mit den unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen und den gleichzeitigen Anforderungen des Leistungssports umgehen können und welche Grundsätze sie dabei beachten sollen.

Blog-Beiträge der Trainerbildung Schweiz (TBS)

Die Trainerbildung Schweiz (TBS) baut ihr digitales Angebot zur Unterstützung von Trainerinnen und Trainern stetig aus. Dazu publizieren wir regelmässig spannende Blog-Beiträge sowie Tipps und Tricks für Training und Wettkampf.

Text: Philipp Wäffler, Verantwortlicher Fachbereich Sportmedizin, Trainerbildung Schweiz

Wir nehmen als Definition für Leistungssport das intensive Ausüben, mit oft täglichem Training und einem wöchentlichen Aufwand von zehn und mehr Stunden, sowie den Leistungsvergleich mit Zielen und Teilnahmen an Wettkämpfen. Wir stellen fest, dass in zahlreichen Sportarten dieser starken Belastung oft bereits Kinder und Jugendliche von 12 bis 18 Jahren ausgesetzt sind. In einigen Sportarten geschieht dies sogar noch früher.

Im Leistungssport verlagert sich heutzutage der Beginn von gezieltem Training immer öfters in frühere Lebensjahre. Gefördert wird diese Entwicklung durch die allgemeine Professionalisierung, die frühe Talent-Identifikation, mehr Wettkämpfe und auch durch internationale (Gross-)Anlässe, wie z.B. die Youth Olympic Games (YOG). Da eine erfolgreiche Sportkarriere oft früh beginnt, sind Trainerinnen und Trainer besonders gefordert:

  • Sie müssen als Fachperson die Kinder- oder Jugendlichen mit einer langfristigen Perspektive so entwickeln, dass sie später gute Chancen haben Höchstleistungen zu erbringen.
  • Sie müssen der individuellen Entwicklung Rechnung tragen und das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Kinder oder Jugendlichen im Leistungssport-Umfeld sicherstellen.

Um dieses Dilemma zu überwinden, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Leistungssport und Umgang mit «Wachstum & Entwicklung» aus der Sicht der Trainerin oder Trainers nötig.


Risiken und kritische Phasen

Wachstum ist ein Prozess, der viele Veränderungen mit sich bringt. Bei Kindern und Jugendlichen findet er ausgeprägt statt. Körperlich macht sich die Verlängerung (besonders beim Knochenwachstum) und die Vergrösserung der Organe bemerkbar. Solche Wachstumsvorgänge beginnen und enden zu unterschiedlichen Zeitpunkten und laufen verschieden schnell ab. Da sie zudem je nach Person sehr individuell verlaufen (Wachstumsschübe wie auch Wachstumsverzögerungen) steigt das Verletzungsrisiko bei (intensiven) Belastungen signifikant, wenn sie den individuellen Entwicklungsstand nicht berücksichtigen.

Bei Kindern und Jugendlichen sind die Knochen weniger stabil und insbesondere die Wachstumszonen (Epiphysen) sehr verletzlich. Muskeln, Sehnen und Bänder sind hingegen relativ elastisch und damit auch weniger verletzungsanfälliger. Die Organe entwickeln sich jedoch sehr unterschiedlich, wobei das Längenwachstum der Muskulatur demjenigen der Knochen meist hinterherhinkt. Dies führt oft zu temporären Missverhältnissen (Dysbalancen, Koordinationsdefiziten), was wiederum die Verletzungsgefahr erhöht, sofern die Belastungen nicht dem Entwicklungsstand angepasst werden.

Während der Pubertät wachsen junge Menschen beschleunigt, aber unregelmässig. Man spricht von Wachstumsschub. In diesen Phasen sind sie sehr anfällig für Überlastungsschäden sowie für Verletzungen aufgrund von Druck oder Zug. Rund 30 Prozent aller Nachwuchsleistungssportlerinnen und -sportler sind von Überbelastungen oder gar von Verletzungen betroffen. Rund drei Jahre nach dem Beginn der Wachstumsschübe wird die höchste Geschwindigkeit (PHV = Peak Hight Velocity) erreicht; man bezeichnet diese Phase als Wachstumsspurt. Bei Mädchen ist dies meist zwischen 11 und 12 Jahren und bei Jungen mit 13 bis 14 Jahren der Fall. Dies ist eine äusserst sensible Phase, vor allem, wenn in diesem Alter bereits Leistungssport betrieben wird. Ein wichtiges Hilfsmittel zum Vergleich mit der Altersnorm sind die Perzentilenkurven.

Längenwachstum und Gewichtszunahme bei Mädchen (rechts) und Jungen (links). Perzentil bedeutet: Hundertstelwert. Eine Länge auf der 50. Perzentile bedeutet also, dass die Hälfte der gleichaltrigen Kinder gleich gross oder kleiner ist.
Quelle Bild: www.paediatrieschweiz.ch. Download Wachstumskurven (pdf)

Dieser Blog fokussiert sich auf die körperliche Veränderung und die einhergehenden Risiken im Zusammenhang mit dem Leistungssport im Kindes- und Jugendalter. Negative Auswirkungen im Zusammenhang mit Leistungssport, die in diesem Alter auftreten können, sind aber auch psychische «Verletzungen» (wie Druck, Mobbing, emotionale Misshandlung, Drop-out), Essstörungen und der Konsum von leistungsfördernden Substanzen und Suchmitteln. All dies kann je nach Schweregrad irreversible Schäden auslösen, die es zu verhindern gilt.

Oft fällt diese körperliche Entwicklung zusammen mit dem Beginn von gesteigerten Trainingsbelastungen im Sport, was ein erhöhtes Risiko darstellt. Dieses Spannungsfeld, bestehend aus den gesteigerten sportlichen Anforderungen einerseits, sowie die oft sensible und fragile körperliche und psychische Entwicklung im Zusammenhang mit dem Wachstum andererseits, muss die Trainerin oder der Trainer zum Wohle der Betroffenen aktiv begleiten und steuern.


Kritische Phasen im Auge behalten

Als Trainerin oder Trainer ist es wichtig, sich der verschiedenen Phasen der Entwicklung und die damit einhergehenden Risiken bewusst zu sein. Dies bildet die Grundlage für ein Alters- und stufengerechtes Training. Zusätzlich sollte man als Trainerin oder Trainer in der Lage sein, Wachstumsschübe und vor allem den Wachstumsspurt zu erkennen. Das kann mit eigenen Beobachtungen sowie im Austausch mit Eltern und mit medizinischen Fachpersonen geschehen. Werden kritische Phasen zu Beginn erkannt, so kann rechtzeitig reagiert und die Belastungen im Training so gesteuert werden, dass das Überlastungs- und Verletzungsrisiko entsprechend reduziert wird.

Des Weiteren müssen sich Trainerinnen und Trainer darüber im Klaren sein, dass der Stand der individuellen Entwicklung einen Einfluss auf Selektionen und Wettkampfresultate haben kann. Herkömmliche Trainings-, und Selektionssysteme sowie Wettkampfkategorien nehmen in der Regel noch zu wenig Rücksicht auf die individuelle Entwicklung und Reife der Kinder und Jugendlichen. Trainerinnen und Trainer können im Rahmen ihrer Möglichkeiten diesem Umstand durch eine möglichst entwicklungsgerechte, adäquate Einschätzung etwas Gegengewicht geben.

Coach bespricht sich mit Eishockey-Team
Bild: Reto Loser

Verantwortungsvolle Trainerinnen und Trainer zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie sich mit dem sportlichen wie auch den biologischen Entwicklungsstand ihrer jungen Athletinnen und Athleten auseinandersetzen. Sie können mit allfälligem «mismatch» (körperliches Wachstum, unpassende Alterskategorie) umgehen. Dies erlaubt ihnen die langfristige Entwicklung angemessen voranzutreiben.


Biologisches Alter, Früh- und Spätentwickler

Teilweise ist der Grössenunterschied innerhalb einer Alterskategorie beträchtlich. Foto: BASPO / Ueli Känzig

Bei der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter spielen das relative Alter (RA) – innerhalb der eingeteilten Alterskategorie – und das biologische Alter (BA) eine grosse Rolle. Noch stärker als im alltäglichen Leben zeigen sich die unterschiedlichen physischen und psychischen Voraussetzungen im Leistungssport. Um den Entwicklungsstand korrekter zu erfassen, teilt man die Kinder und Jugendlichen in Normal-, Früh- und Spätentwickler ein.

Im Sport bringen die teilweise massiven Unterschiede für sogenannte Spätentwickler oft gravierende physische Nachteile. Frühentwickler haben hier einen Vorteil, können aber allenfalls unter psychischer Überforderung leiden, da ihnen mehr zugetraut wird, als sie effektiv in diesem Bereich bereits können.

Wachstumskurven von Früh-, Normal- und Spätentwickler; 1) Beginn der Pubertät; 2) Wachstumsspurt, «Peak height velocity» (PHV); 3) Abschluss Wachstumsphase. Quelle: Rüeger et al. 2022

In jedem Fall geht mit diesen Ungleichheiten einher, dass sie in einem direkten Vergleich im Leistungssport-Umfeld unfair sind und einer langfristigen, nachhaltigen und erfolgreichen Entwicklung nicht förderlich sind.

Das relative Alter (RA) – aber dann vor allem die Unterschiede im biologischen Alter (BA) – fällt oft in den Beginn eines vermehrt strukturierten und gezielten Leistungstrainings. In die Zeit der Pubertät fallen oft gesteigerte, neue Belastungen durch das Training und vermehrte Wettkämpfe. Hinzu kommen in der Regel auch höhere schulische Anforderungen. Sowohl RA als auch BA haben einen starken Einfluss auf die Selektion, wenn sie nicht berücksichtigt werden.

Grafik: Biologische Unterschiede
Maximaler, relativer Einfluss von RA und BA bei jungen Männern innerhalb einer Alterskategorie zwischen einem Früh- und einem Spätentwickler relativ (in %) zum kalendarischen Alter (CA). Bei jungen Frauen beginnen die Unterschiede im BA ungefähr zwei Jahre früher. Quelle: Rüeger et al. 2022

Unterschiede in der biologischen Reife können bis zu fünf Jahre betragen. Es ist daher zwingend, dass die Trainerinnen und Trainer über den effektiven biologischen Entwicklungsstand ihrer Athletinnen und Athleten im Bilde sind.

Deren Beurteilung kann durch verschiedene Methoden erfolgen. Die gebräuchlichsten sind die Bestimmung des Knochenalters (z.B. durch Handröntgenbild), die Mirwald-Methode (xls) und Einschätzung unter Einbezug einer Vielfalt von Kriterien durch kompetente Trainer/innen und/oder medizinische Fachpersonen. Wichtig dabei sind Vergleiche (Altersnorm, Familie), um die individuelle Entwicklung besser einordnen zu können. In Zukunft kann die Einschätzung der biologischen Reife wohl auch vermehrt durch Ultraschall-Untersuchungen erfolgen.


Praktische Anwendungen

Wie die Beitragsserie «Alterseffekte im Sport» aufzeigt, können sich Alter und Entwicklungsstand auf die Talentselektion und -förderung entscheidend auswirken. Mögliche Lösungsansätze (z.B. zwei Stichtage) oder die «Carte Blanche» werden teilweise angewendet. Mit der Carte Blanche haben die Verbände die Möglichkeit, eine/n spätentwickelte/n Spielerin oder Spieler trotz des älteren chronologischen Alters in der tieferen Spielklasse zu belassen, nicht unbedingt als Talentidentifikation, aber damit sie stufengerecht Sport treiben können.

Ein nützliches Hilfsmittel zur objektiveren Talentselektion ist das Instrument PISTE, welches Bestandteil des FTEM Schweiz ist und von diversen Verbänden eingesetzt wird. Dieses Instrument zieht die spätere internationale Konkurrenzfähigkeit im Leistungssport auf Elite-Stufe in Betracht, basierend auf den heute verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit dem Ansatz «Nicht die aktuell Besten, sondern die Geeignetsten» zu finden.


Entwicklung objektiver beurteilen

Den Ansatz, Kinder und Jugendliche gemäss ihres relativen Alters innerhalb ihrer Alterskategorie und später vor allem gemäss ihres biologischen Alters zu beurteilen, zu fördern und letztlich auch in der ihr/ ihm entsprechenden Kategorie Wettkämpfe bestreiten zu lassen, sollten die Verbände sowie die Trainerinnen und Trainer kennen. Die Umsetzung in der Praxis ist nicht immer einfach zu realisieren, aber durch das entsprechende Bewusstsein kann man die sportliche Entwicklung junger Athletinnen und Athleten zumindest objektiver beurteilen.

Um den jungen Athletinnen und Athleten im Leistungsport gerecht zu werden, gilt es zudem den Fokus als Trainerin oder Trainer auf die langfristige Entwicklung zu richten. Dass dabei die Anforderungen durch Wettkämpfe und Selektion nicht gänzlich ausser Acht gelassen werden können, ist eine Realität. Wie man einen solchen Spagat in der Praxis erfolgreich meistern kann, zeigt der Blogbeitrag Athletik – Trainingsplanung im Nachwuchs: Langfristig entwickeln – kurzfristig performen.


Grundsätze für den Leistungssport im Kinder- und Jugendalter

Kinder und Jugendliche sind trainierbar und auch bei ihnen hat Sport und Bewegung positive Auswirkungen. Betreiben sie Leistungssport, zeigen sich oft ein verbessertes Selbstbewusstsein, eine bessere Fitness, körperliche Stärke und immer wichtiger: Sie erkranken weniger häufig an Zivilisations- und Wohlstandkrankheiten. Bedeutend ist aber, gewisse Risiken und sensible Phasen des Wachstums zu kennen und zu beachten.

So können trotz eines frühen Einstiegs in den Leistungssport Überlastungen in den sensiblen Entwicklungsphasen vermieden werden. Oder sie können zumindest frühzeitig erkannt und es kann entsprechend richtig regiert werden. Zudem ist nebst dem körperlichen Wachstum auf die psychische Gesundheit, allfällige Essstörungen sowie Doping und Missbrauch von Suchmitteln zu achten.

Positive und negative Auswirkungen von Bewegung und Sport auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Positive und negative Auswirkungen von Bewegung und Sport auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Quelle: Menrath et al., 2021: Pädiatrische Sportmedizin

Effiziente und rücksichtsvolle Trainerinnen und Trainer ermöglichen den Kindern und Jugendlichen vielseitige Körpererfahrung bestehend aus Inhalten mit Bewegungskoordination, Mobilität/ Stabilität, Ausdauer und Kraft. Sie geben ihnen mit einer langfristigen Entwicklungsperspektive die technischen Grundlagen für ein nach und nach leistungsbezogenes Training mit auf den Weg. Folgende Grundsätze sollten Trainerinnen und Trainer bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport beachten:

  • Positive und negative Auswirkungen kennen
  • Spezielle Risikofaktoren im Zusammenhang mit dem Wachstum kennen
  • Individuellen Entwicklungsstand berücksichtigen, Umgang mit «mismatch»
  • Relatives Alter und Biologisches Alter bei Beurteilungen und Selektionen einbeziehen
  • Belastungen mit Rücksicht auf die Entwicklung anpassen
  • Belastungswahrnehmung und -verträglichkeit sind individuell
  • Adäquates Training mit langfristiger Entwicklungsperspektive
  • Vernünftiges Gesundheits- und Belastungsmanagement sicherstellen

Quellen und weiterführende Literatur