Sportpsychologie

Leidenschaft im Sport – Fluch oder Segen?

Athletinnen und Athleten leben von ihrer Leidenschaft für den Sport. Sie ist Teil des Antriebes für jahrelanges, hartes Training und ein wichtiger Faktor auf dem Weg zum sportlichen Erfolg. Je nach Ausprägung birgt diese Leidenschaft auch Gefahren: beispielsweise bei Fragen rund um die Identität und den Selbstwert. In Handlungsempfehlungen erfahren Trainerinnen und Trainer am Ende dieses Beitrages, wie sie ihre Athletinnen und Athleten dabei unterstützen können, eine harmonische Leidenschaft zu entwickeln sowie die Identität und den Selbstwert über den Sport hinaus zu stärken.    

Blog-Beiträge der Trainerbildung Schweiz (TBS)

Die Trainerbildung Schweiz (TBS) baut ihr digitales Angebot zur Unterstützung von Trainerinnen und Trainern stetig aus. Dazu publizieren wir regelmässig spannende Blog-Beiträge sowie Tipps und Tricks für Training und Wettkampf.

Sportpsychologie: Leidenschaft im Sport – Fluch oder Segen? Symbolbild
Foto: Adobe Stock

Autorinnen: Manuela Müller, (Verantwortliche Fachbereich Sportpsychologie und Prüfungsentwicklung), Ayla Huser (Verantwortliche Digitale Lern- und Lehrangebote), Trainerbildung Schweiz


Geschlossene Trainingsinfrastruktur, eingestellter Wettkampfbetrieb, zu Hause bleiben: der Trainingsalltag von Leistungsathletinnen und –athleten war während der Pandemie alles andere als gewohnt. Vom einen Moment auf den anderen war unerwartet viel Zeit vorhanden, um sich Gedanken über Sinn und Zweck des eigenen Lebens zu machen. Und über die eigene Beziehung zum Sport.  

  • «Was mache ich, wenn ich meine Leidenschaft nicht ausüben kann?»
  • «Wie verbringe ich meinen Alltag, bzw. was ist Ersatz für meinen geliebten Sport?»
  • «Wer bin ich überhaupt und über was definiere ich mich?»

Teilweise wurden diese Fragen gar zu einer regelrechten Herausforderung und waren ein potenzieller Nährboden für Sinneskrisen. Auch (und vielleicht erst recht) für Athletinnen und Athleten auf Stufe Spitzensport.

Solche Ausnahmesituationen – auch ein Unfall, eine Krankheit, ein Rücktritt oder Leistungsstagnationen im Sport – können nicht nur Leidenschaft, sondern auch die eigene Identität und den Selbstwert in Frage stellen.

Wenn man die Balance findet

Pirmin Werner, Freestyle Skiing Aerials, 4. Rang OS Peking 2022
Pirmin Werner, Freestyle Skiing Aerials, 4. Rang OS Peking 2022

«Ich liebe es, mich mit den Skiern in die Luft zu katapultieren und mich anschliessend mit Saltos und Drehungen um meine eigene Achse zu drehen. Das Gefühl der Rotationen, des durch die Luft Fliegens und der Adrenalinkick dabei sind einfach unbeschreiblich!» Das erzählt Pirmin Werner über seine grosse Leidenschaft, das Freestyle Skiing Aerials.

Neben einem hohen Zeitinvestment über lange Perioden wird laut dem Psychologieprofessor Robert Vallerand (2015) eine Leidenschaft «geliebt und als höchst interessant empfunden». Leidenschaft beschreibt selbst definierte Handlungen in Bezug auf ein Thema, eine Aktivität oder eine Person. Den Handlungen liegen dabei hohe persönliche Werte, intensive Gefühle und ein tiefes mentales Eintauchen in die Aktivität zu Grunde (Flow). Die Personen fühlen sich dabei sehr lebendig.

Spürbar wird dies auch im Statement von Pirmin. Doch der Spitzenathlet liebt es auch, sich in unterschiedlichen Bereichen seines Lebens immer wieder herauszufordern: im beruflichen Umfeld, in anderen Sportarten, aber auch auf der menschlichen Ebene. Pirmin stellt sich gerne schwierigen Herausforderungen aller Art.

Vallerand bezeichnet dieses Phänomen «harmonische Leidenschaft». Sie erlaubt es Pirmin, sich voll auf eine Aufgabe (zum Beispiel auf sein Training) zu fokussieren. Der Freestyler erlebt dabei mehrheitlich positive Gefühle und Zufriedenheit. Die leidenschaftlichen Investitionen in seine sportlichen Aktivitäten hindern ihn allerdings nicht, an anderen Lebensaktivitäten teilzunehmen, sondern lassen eine harmonische Koexistenz aller Aktivitäten zu.

Wenn man aus Angst handelt, nicht erfolgreich zu sein

Auszug aus dem Tagebuch von Autorin Manuela Müller

Was aber, wenn die so heftig geliebte sportliche Tätigkeit immer mehr Zeit beansprucht und alles andere dominiert? Was, wenn die Athletinnen und Athleten gar nicht mehr anders können als an der Tätigkeit teilzunehmen, die sie als wichtig und angenehm empfinden? Was, wenn die Leidenschaft einen zu grossen Leidensdruck erweckt und die Teilnahme am Leben neben dem Sport erschwert?

«Nein, ich kann morgen nicht mitgehen auf den Ausflug. Ich muss nochmals trainieren und noch mehr Sprünge machen. Ich kann einfach nicht anders. Das Training gibt mir eine Art Sicherheit. Ich muss alles geben. Eine olympische Medaille würde mir beweisen, dass ich tatsächlich gut genug bin.», schrieb ich einmal in mein Tagebuch.

Im Unterschied zu Pirmin erlebte ich in meiner Zeit als Spitzensportlerin im Freestyle Aerials diesen unkontrollierbaren Drang, immer noch mehr zu trainieren. Sport war mein Ein und Alles. Er war Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Es erschien mir als wichtig und sinnvoll, die Chance auf Erfolg mit unendlichem Training zu maximieren.

Wenn Leidenschaft zur Obsession wird

Vallerand bezeichnet dieses Verhalten als «obsessive Leidenschaft». Die obsessive Leidenschaft zeichnet sich durch einen Mangel an Kontrolle über die leidenschaftliche Aktivität aus. Die starre Beharrlichkeit in der Tätigkeit schafft Konflikte mit anderen Lebensaktivitäten. Diese Konflikte wiederum bringen oft negative Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen mit sich. Bei einer obsessiven Leidenschaft können Leistungen, Freundschaften wie auch die psychische Gesundheit beeinträchtigt werden.

Welcher Mechanismus der obsessiven Leidenschaft zu Grunde liegt, erklärt Sportpsychologin und Präsidentin der Swiss Asscociation of Sport Psychology, Katharina Albertin (2022, pdf):: «Dieser obsessiven Form von Leidenschaft liegt meist ein erhöhtes Grundbedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit zu Grunde. Die Athletinnen und Athleten definieren sich meist nur noch über den Sport – der wiederum von Erfolg abhängig ist. Die Furcht vor Misserfolg begründet eine extrinsisch motivierte «obsessive Leidenschaft», die aber eigentlich gar keine Leidenschaft mehr ist. Sondern eine Bewältigung der Angst, nicht erfolgreich zu sein, wenn man nicht maximal viel trainiert. An diese exzessive Form der Selbstkontrolle kuppelt sich dann häufig der Selbstwert der Sportlerin oder des Sportlers.

Wenn der Sport zur einzigen Identität wird

Auszug aus dem Tagebuch von Autorin Manuela Müller
Auszug aus dem Tagebuch von Autorin Manuela Müller

So erging es auch mir immer wieder. Ich schrieb damals in mein Tagebuch: «Ich bin einfach nicht gut genug. Ich kriege diesen Sprung nicht hin. Dies sehen auch meine Teamkolleginnen und Teamkollegen und finden mich nicht cool, sondern einfach nur schlecht. Die wollen mich nicht dabeihaben. Sie mögen mich nicht – kein Wunder bei meinem Theater um diesen Sprung! Ach, was bin ich nur für ein Mensch? Ich kann und bin nichts!»  

Mehr und mehr fühlte ich mich nur noch als «Athletin Manuela» und identifizierte mich hauptsächlich über deren Eigenschaften und Kompetenzen. Die Anerkennung durch Erfolg wurde somit entscheidend, um mich als Person wertgeschätzt zu fühlen.

Im Leistungssport arbeiten Athletinnen und Athleten mit viel Disziplin, Durchhaltewillen und der besprochenen Leidenschaft an ihren Zielen. Die eigene Sportart und das tägliche Training werden zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens. Je höher der Trainingsaufwand und die gesellschaftliche Bedeutung einer Sportart, desto höher die Identifikation mit sich als Athletin oder Athlet (Schmid & Seiler, 2003).

Die Rolle «Athletin/Athlet» wird somit zu einem immer grösseren Anteil der eigenen Identität, bzw. der Art und Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen und verstehen. Entspricht zudem das soziale Umfeld hauptsächlich dem sportlichen Umfeld und wird auch im Privaten bevorzugt über Sport diskutiert, steigert dies erfahrungsgemäss das Risiko einer einseitigen Identität.

Dies ist nicht per se schlecht. Fällt der Sport aber weg (sei dies aufgrund einer Pandemie, einer Verletzung oder eines Rücktritts aus dem Sport), wissen viele nicht mehr, wer sie sind und wohin ihre Reise gehen soll. Zudem steigt das Risiko, dass der Selbstwert ins Wanken kommt, wenn die eigene Identität hauptsächlich über den Sport geschieht. Bereits Niederlagen oder Stagnationen im Training können dann grössere Zweifel am Selbstwert hervorrufen.

«Tennis ist das, was sie tut, aber nicht, wer sie ist.»

Mentalcoach Ben Crowe

Mentalcoach Ben Crowe sagte über die erst kürzlich zurückgetretene australische Tennisspielerin Ashley Barty: «Tennis ist das, was sie tut, aber nicht, wer sie ist.». Diese Aussage bringt es auf den Punkt: Athletinnen und Athleten, aber auch deren Trainerinnen und Trainer sollten versuchen, nicht ihre gesamte Identität auf Leistungssport aufzubauen.

Wenn Lebensbedürfnisse berücksichtigt werden

Nun, es ist im Leistungs- und Spitzensport eine Herausforderung zu wissen, wer man ist und sich des Ursprungs der eigenen Leidenschaft bewusst zu sein. Einerseits müssen Athletinnen und Athleten vieles dem Sport unterordnen, um überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben. Andererseits sollten sie auch ihre untergeordneten Bereiche des Lebens im Sinne einer harmonischen Leidenschaft nicht aus den Augen verlieren.  

Katharina Albertin: «Harmonische Leidenschaft ist ganz eng mit der intrinsischen Motivation verwandt, die sich aus der empfundenen Freude und Begeisterung während der sportlichen Handlung speist. Diese Form der Motivation und des Antriebs erschöpft sich auf gesunde Art und Weise und lässt die Person auch andere aufkommende Bedürfnisse wie Hunger, sozialer Kontakt oder Interessen ausserhalb des Sports spüren. Darum sind harmonische Leidenschaft und eine Relativierung des Kontrollbedürfnisses für die psychische Gesundheit und die Leistungsfähigkeit von Athletinnen und Athleten zentral».

Harmonische Leidenschaft ist also nicht nur ein Indiz für intrinsische Motivation, sondern sie lässt auch weitere Lebensaktivitäten zu. Andere Bedürfnisse und Lustgefühle können mit ihr befriedigt werden. Dabei unterstützt die harmonische Leidenschaft eine Identitätsbildung, die über den Sport hinausgeht. Und: Sie fördert psychisches Wohlbefinden. Gute Voraussetzungen also für eine leidenschaftlich gesunde Sportkarriere!


Handlungsempfehlungen

Die folgenden Handlungsempfehlungen sollen Trainerinnen und Trainer dazu animieren, ihr Wissen über die Ausprägungen der Leidenschaft (harmonisch vs. obsessiv) und die Identität aktiv anzuwenden.

Fördere eine harmonische Leidenschaft

  • Lass andere Aktivitäten zu, mindestens einmal pro Woche, in Trainingspausen und in den Ferien. Falls den Athletinnen und Athleten keine anderen Interessen bewusst sind, motiviere sie dazu, Neues auszuprobieren.
  • Fördere Autonomie im und ausserhalb des Trainings. Lass die Athletinnen und Athleten wann immer möglich mitentscheiden!
  • Lobe Handlungen und Prozesse.

Reagiere auf Anzeichen einer obsessiven Leidenschaft
(z.B. Beharrlichkeit, Verbissenheit, Trainingsmaximierung usw.).

  • Lobe und anerkenne sportunabhängige Eigenschaften und Kompetenzen.
  • Suche das Gespräch mit den Betroffenen und versuche herauszufinden, «was» genau die Athletin oder der Athlet an der sportlichen Tätigkeit liebt.

Fördere eine breitabgestützte Identität

  • «Wer bist du?»: Überlege dir für dich selbst, wer du bist, und frag deine Athletinnen und Athleten, wer sie sind. Hilf ihnen mit Gesprächen und Fragen über ihre sozialen Rollen herauszufinden, wer sie sind.
  • Sprich mit deinen Athletinnen und Athleten ganz bewusst über andere Themen als nur über den Sport (z.B. über persönliche Interessen, Familie, Freunde, die Schule, Ausbildung usw.).

Wenn du das Gefühl hast, dass deine Fachkompetenz in einem spezifischen Fall nicht ausreicht, zögere nicht eine Fachperson hinzuzuziehen!

Das Wohl der Athletin oder des Athleten steht immer an erster Stelle!

Quellen und Literatur