Kinderfussball

Hürden beim Vereinseintritt

Eine Untersuchung der Eidg. Hochschule für Sport Magglingen EHSM und des Schweizerischen Fussballverbands SFV zeigt: Schweizer Fussballclubs platzen aus allen Nähten. Zu viele Kinder landen auf Wartelisten. Dies kann zu einem Verlust von Talenten sowie einem Ausschluss aus dem Sportsystem führen. Sowohl bei Knaben als auch bei Mädchen. Die Untersuchung zeigt aber klar auf: Es braucht eine Umwandlung in der Schweizer Kinderfussballlandschaft. Lösungsansätze sind da, wenn auch nicht immer einfach umzusetzen.
Zeichnung: Kinder und Jugendliche in einer Warteschlange vor einêm Fussballplatz.
Bild: Schweizerischer Fussballverband SFV, Screenshot aus Erklärvideo Fussballvereinsstudie

Autoren: Eva Rüeger, Mirjam Hintermann, Michael Romann (alle Eidg. Hochschule für Sport EHSM), Raphael Kern (Schweiz. Fussballverband SFV)

Rund 300’000 Spielerinnen und Spieler, darunter zwei Drittel Kinder und Jugendliche: So viele Aktivmitglieder zählt der Schweizerische Fussballverband aktuell und ist somit einer der grössten Sportverbände der Schweiz. Dies schreit förmlich nach grosser Infrastruktur, wie z. B. Spielfelder, Platzbeleuchtung, Garderoben und Sporthallen für das Wintertraining. Und dass eine hohe Anzahl qualifizierter Trainer/innen verlangt ist, versteht sich von selbst.

Doch diese Voraussetzungen können zahlreiche Vereine nicht mehr decken. Die Folge: Viele Kinder kommen auf Wartelisten, die manchmal bis zu hundert Namen innerhalb eines einzigen Vereins beinhalten.

Darunter leiden speziell auch die reinen Mädchenteams, die aufgrund der Kapazitätsgrenzen in den Vereinen nicht gegründet und somit nicht gefördert werden. Die Spielerinnen müssen deswegen in Knabenteams integriert werden, in denen sie unterrepräsentiert sind. Es braucht also neue Lösungen, um den Kindern passende Angebote zu bieten und sie im Verein Fussball spielen zu lassen. Allen voran: Die Wartelisten sollen abgebaut werden.

Aktuelle Situation

Zur Analyse der aktuellen Situation betreffend Wartelisten (WL) wurden alle Vereine mit einer Kinderfussballabteilung, d.h. in den Kategorien G, F und E (5-11 Jahre), angeschrieben. 556 von insgesamt 1’128 Vereinen haben geantwortet (49 %). Die Antworten wurden in fünf verschiedene Kategorien eingeteilt (siehe Abb. 1).

Grafik: Einteilung der Wartelisten.
Abb.1: Einteilung der Wartelisten (WL): WL nicht-dokumentiert: keine Angaben bezüglich Anzahl, Geburtstagsdatum oder Geschlecht. WL dokumentiert: Angaben mindestens bezüglich Geburtstagsdatum und Geschlecht. WL mit Angebot: Organisation einer sportlichen Aktivität ausserhalb des Vereins. Zeitweise: oft mit WL konfrontiert. Ohne WL: keine Warteliste. Klicken zum Vergrössern.
Abb. 2: Verteilung der 132 Vereine mit Wartelisten. Klicken zum Vergrössern.

Wie sieht es in den Regionen aus?

Analyse der Wartelisten in den Regionalverbänden.
Tab. 1: Analyse der Verteilung der Wartelisten (WL) und der Rücklaufquote (RLQ) in den Regionalverbänden (RV). Klicken zum Vergrössern.

Die Grösse des Vereins und das Niveau der ersten Mannschaft zeigen keinen Zusammenhang mit der Anzahl an Kindern auf der Warteliste (Abb. 3). Anhand der Daten wurden die Gesamtzahl der Kinder auf Wartelisten und die Anzahl der betroffenen Vereine geschätzt. Hochgerechnet wären demnach fast 230 der Schweizer Fussballvereine mit Kinderfussballabteilungen von regelmässigen Wartelisten und rund 270 Vereine von dieser Problematik betroffen. Die Zahl der Kinder auf den Wartelisten wird auf etwa 7’800 geschätzt.

Grafik: Wartelisten im Verhältnis zu Niveau der 1. Mannschaft des Vereins.
Abb. 3: Kein Zusammenhang zwischen der Anzahl Kinder auf der Warteliste, der Anzahl aktiven Spieler im Verein und dem Niveau der ersten Mannschaft. Klicken zum Vergrössern.

Ausschluss aus dem Sportsystem

Wartelisten und Bewegungsförderung von Kindern stehen in einem klaren Widerspruch zueinander. Es gibt auch nur selten Vereine mit alternativen Angeboten für Kinder auf Wartelisten oder die Kinder in anderen Vereinen unterbringen. Oft werden zudem Probetrainings durchgeführt, welche zu einer Selektion sowie kompetitiven und stressigen Situationen führen können. Dies kann eine zusätzliche Hürde darstellen, besonders auch für Mädchen (Casey et al., 2014; Farmer et al, 2018). Was wiederum die Bildung von Mädchenteams hemmt.

Laut Hardy (2010) kann auch der elterliche Einfluss eine Rolle bei der Wahl der Sportart spielen. Beispielsweise sind Zeit, Kosten oder die Sportangebote in der Nähe des Wohnorts wichtige Auswahlkriterien (Hardy, 2010). Kann die Wunschsportart aufgrund von Wartelisten nicht ausgeführt werden, besteht das Risiko, dass diese Kinder an keiner anderen sportlichen Aktivität teilnehmen. Der Worst Case wäre der komplette Ausschluss der Kinder aus dem Sportsystem.

Verlust von Talenten und Trainingszeit

Wartelisten sind eine erste Selektionshürde in der Entwicklung von (zukünftigen) Spielerinnen und Spielern. Ihre Folgen bleiben auch nach Aufnahme in einen Verein noch spürbar: Denn die Zeit, die ein Kind ohne strukturiertes Training verbringt, führt zu einem Niveauunterschied im Vergleich zu Gleichaltrigen. Dieser Niveauunterschied bedeutet meist, dass die Spieler/innen durch eine aktuell schlechtere Leistung nur in das zweite oder dritte Team selektioniert werden.

Dort werden sie eher von weniger erfahrenen Trainern ausgebildet und betreut, was wiederum zu einer schlechteren Leistung und einem Motivationsabfall führen kann. Diese negative Spirale kann bei Spielern zu einer erhöhten Drop-Out-Rate führen (Abb. 4). Eine Analyse der SFV-Datenbank zeigt: 86 % der Kinder der Kategorien G bis E durchlaufen eine solche Einteilung, da es in derselben Kategorie jeweils mehrere Teams gibt.

Grafik: Positive und negative Spirale als Konsequenz der Wartelisten.
Abb. 4: Positive und negative Spirale als Konsequenz der Wartelisten. Klicken zum Vergrössern.

Chancengleichheit auf der Kippe

Dieser Teufelskreis beeinflusst sowohl das lebenslange Sporttreiben negativ als auch den Schweizer Talentpool, was sich später auf den Leistungssport auswirkt. Auf dem Weg an die nationale Spitze durchläuft ein Spieler auf jeder Stufe eine Selektion. Der Einstieg in den organisierten Fussball stellt dabei die Basis der Pyramide dar.

Wird dieser Einstieg aufgrund von Wartelisten verhindert, gehen potenzielle Talente verloren und die Chancengleichheit ist nicht gewährleistet. Dazu kommen in diesem Alter die Effekte des relativen Alters, welche zu ähnlichen Auswirkungen führen können (Born et al., 2018). Um dieser Problematik in Zukunft entgegenzuwirken und den Talentpool zu vergrössern, braucht es Lösungen.

Verbesserungspotenzial

Im Fussball haben zwei Regionalverbände (Zürich, Nordwestschweiz) bereits Projekte gestartet, um mögliche alternative Lösungen für die Zukunft zu prüfen. Der Fokus soll auf der individuellen Unterstützung der Vereine liegen und dabei ihre Strukturen, Probleme und Möglichkeiten berücksichtigen.

In den Ergebnissen aus der nationalen Vereins- und Verbandsbefragung (Die Schweizer Fussballvereine) haben 60 % der Vereine fehlende oder unzureichende Infrastrukturen genannt (Bürgi, Lamprecht, Geber & Stamm, 2018). Wünschenswert wäre es in Zukunft verschiedene Lösungsansätze zu kennen, um den unterschiedlichen Voraussetzungen der Vereine Rechnung zu tragen. Nachfolgend werden solche thematisiert und ausgeführt.

Ein zusätzliches Angebot für Spass-orientierte Mitglieder aufbauen

Heutzutage gibt es unzählige Freizeitangebote und ein langfristiges Engagement in einem Verein ist dabei nicht immer die Regel. Um die Teilnahme zu fördern, braucht es deshalb angepasste Angebote, die den Bedürfnissen und den Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen entsprechen.

Die wöchentliche Organisation von Trainings und Wettspielen benötigt viel Zeit und kann daher für Kinder, Familien und Trainer/innen eine Belastung darstellen. So könnten Kinder und Jugendliche zum Beispiel die Möglichkeit erhalten, an einem niedrigeren (Spass-orientiertem) Angebot im Verein teilzunehmen. Traditionelle Teams, die regelmässig trainieren und am Meisterschaftsbetrieb teilnehmen, würden aus Kindern bestehen, die ambitionierter und bereit sind, sich stark zu engagieren.

Der Wechsel zwischen diesen Angeboten sollte in beiden Richtungen möglich sein und diese entsprechend den Möglichkeiten und Wünschen der Teilnehmer angepasst werden. Dadurch würde der Zugang zum Sport erweitert und die Chancen, Fussballspielen zu lernen, erhöht.

Pooltraining als Lösung für viele Herausforderungen

Das Pooltraining ist eine Trainingsorganisationsform, bei welcher ein Trainerteam 20 – 30 Kinder oder Jugendliche («Pool») betreut. Aus dem «Pool» werden kleinere Gruppen à 6 – 10 Spieler gebildet. Jede Gruppe durchläuft im Verlauf des Trainings verschiedene Übungs- oder Spielstationen (Dauer pro Station 20 bis 30 Minuten). Dadurch entsteht ein viel kleinerer organisatorischer Aufwand. Im Trainerteam können erfahrene Trainer die Gesamtführung übernehmen, unterstützend wirken, und die Platzverhältnisse werden optimaler genutzt.

Jugendliche an das (Assistenz-)Traineramt heranführen

Ein weiteres grosses Problem ist der Mangel an Trainern/innen und Betreuern/innen. Die Anzahl qualifizierter Trainer/innen ist oft zu gering, um alle Teams im Verein abzudecken. Der Zugang zu J+S-Ausbildungen ist für Trainer/innen erst ab dem 18. Lebensjahr möglich und die Kursdauer eine zusätzliche Hürde.

Deshalb hat das Sportamt des Kantons Zürich mit dem 1418coach ein Programm für die nächste Trainergeneration entwickelt. Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren haben so die Möglichkeit, an einem Wochenende die Grundlagen des Coachings zu erlernen. Danach werden sie in den Vereinen durch ein Götti-Prinzip in den Trainings begleitet und für ihre Leistungen mit einem finanziellen Beitrag des Kantons unterstützt.

Das Projekt ist bereits von mehreren Kantonen übernommen worden. Der Verein profitiert so nicht nur von zusätzlicher Unterstützung und der Möglichkeit, die Teilnehmerzahl zu erhöhen, sondern zieht zukünftige Trainer früh nach. Dies kann bei den jungen Trainern und Trainerinnen zudem ein Gefühl der Autonomie und Zugehörigkeit entwickeln, was die Beziehung zum Verein langfristig stärken kann.

Flexibilität der Wettspielformate

Traditionelle Wettspielformate erfordern bislang die Teilnahme einer definierten Anzahl von Spielern, damit ein Spiel durchgeführt werden kann. Es gibt aber Vereine mit Schwierigkeiten, ein komplettes Team zu bilden. Und wiederum andere kämpfen mit zu hohen Zahlen an Wechselspielern, die traurig auf der Ersatzbank Platz nehmen müssen.

Wie das Projekt «play more football» gezeigt hat, können durch den Einsatz von Kleinfeldspielen, die Anzahl der Spieler flexibler angepasst werden (Hintermann et al., 2020). Durch flexiblere Wettspielformate könnte eine Begrenzung der Spieleranzahl verringert werden und weniger würden benachteiligt. Im Kinderfussball würde eine kurzfristige Planung ermöglichen, sich nach der Anzahl der am Spieltag verfügbaren Spieler zu organisieren. Das Programm für eine ganze Saison bestünde damit ausschliesslich aus einmaligen Events ohne Ranglisten, die nicht für jedes Spiel ein vollständiges Team erfordern.

Synergien nutzen

Um der Problematik der überfüllten versus unterbesetzten Vereinen entgegen zu wirken, könnte eine Zusammenarbeit zwischen den Vereinen angepeilt werden. Dabei würden die Kinder auf Wartelisten jeweils auf die verfügbaren Plätze in anderen Vereinen verteilt. Zu berücksichtigen wäre die Distanz zum nächsten Verein, um die Fahrdienste für Eltern in einem vernünftigen Rahmen zu halten. Weiter wäre die Zusammenarbeit in derselben Gemeinde zwischen Vereinen und Schulsport gewinnbringend. Die Koordination würde durch Einbezug der Sportlehrpersonen und Nutzung der Plätze die Ressourcen erhöhen.

Eine weitere Alternative wäre die Kooperation mit anderen Sportarten in der Region. Beispielsweise könnten verschiedene Ballsportarten gemeinsame Trainingseinheiten anbieten, um Kinder vor Eintritt in einen Verein mit dem Ball vertraut zu machen. «FooBaSKILL» ist ein konkretes Beispiel für diese Multi-Sport-Aktivität (siehe auch Monatsthema 10/2017).

Trotz der Wunschsportart eines Kindes wäre so der Zugang zu Bewegung und Gruppenaktivitäten ausserhalb der Schulzeit gegeben. Dazu würden eventuell weniger bekannte Sportarten neu entdeckt und ausprobiert. Dies könnte langfristig für die Kinder ein Vorteil sein, da sich die sportliche Vielfalt in der Kindheit als ein Schlüsselfaktor für die langfristige Entwicklung von Athleten sowohl im Spitzen- als auch im Breitensport erwiesen (Côté et al., 2009).

Umsetzung der Alternativen

So klar und ideal diese Alternativen auch erscheinen mögen (Tab. 2): Deren Umsetzung kann sich als grosse Herausforderung erweisen. Würden Wartelisten abgebaut, hätten alle Kinder Zugang zum Sport, was zu einer höheren Teilnahme führen würde. Zusätzlich wäre dies die Grundlage eines lebenslangen Sporttreibens und würde somit zur Förderung der Gesundheit durch körperliche Aktivität beisteuern.

Zertifizierungsprogramm

Der SFV hat vor kurzem ein Zertifizierungsprogramm (siehe Kasten) auf der Grundlage der UEFA Grassroot Charter (pdf, englisch) und bestehender Programme in anderen Ländern lanciert. Der Abbau von Wartelisten ist dabei ein Ziel, das je nach den spezifischen Bedürfnissen der einzelnen Vereine mit verschiedenen Mitteln erreicht werden soll (Tabelle 2).

SFV Quality Club

Mit dem SFV Quality Club lanciert der Schweizerische Fussballverband (SFV) ein umfassendes Vereinsentwicklungs- und Zertifizierungsprogramm.

Dank diesem Programm sollen die Vereine individuell und massgeschneidert unterstützt und dadurch gestärkt werden. Es beinhaltet eine enge Mentoren Begleitung (detaillierte Vereinsanalyse und Massnahmenplanung), sowie die Zertifizierung als Prozessziel. Das Konzept von SFV Quality Club wurde in enger Zusammenarbeit mit der UEFA und dem Norwegischen Landesverband erarbeitet.

Ziel: Abbau von Wartelisten

Tabelle: Lösungsansätze und ihre Vortiele.
Tab. 2: Lösungsansätze und ihre Vorteile je nach spezifischen Bedürfnissen. Klicken zum Vergrössern.

Für den wertvollen und konstruktiven Austausch sowie das Engagement möchten wir uns herzlich bei Alain Burger, Benjamin Egli, Dominik Müller, Joy Walker, Marco Bernet, Pascal Humbel und Theo Widmer bedanken.